Exkurs – zum Raumbezug in der Sozialberichterstattung
Bereits die Enquetekommission hat 2008 empfohlen, die »kleinräumige Familienberichterstattung zu verbessern«333 − Hintergrund war der schon damals sichtbare Befund, dass Wachstums- und Schrumpfungsregionen dicht beieinander liegen können. Auf diesem Hintergrund kommt vor allem in den Landkreisen der Abgrenzung der Sozialräume334 eine besondere Bedeutung zu. Fast alle Landkreise im Freistaat haben – meist um 2009 herum – Sozialräume festgelegt, so dass Sachsen ohne die drei Kreisfreien Städte insgesamt 73 bzw. 68 Sozialräume335 hat. Ein Vergleich von der Anzahl der Sozialräume, Bevölkerung, Zahl der Gemeinden, Fläche in km² und Zahl der Einwohner je km² lässt keine Korrelationen erkennen. Auch eine Begründung für die räumliche Abgrenzung der Sozialräume lässt sich nur ausnahmsweise finden.
Landkreis | Zahl der Sozialräume | Bevölkerung* | Zahl der Gemeinden* | Fläche in km²* | Zahl Einwohner je km²* |
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Erzgebirgskreis | 6 | 344.136 | 60 | 1.828 | 188 |
Mittelsachsen | 7 | 310.505 | 53 | 2.117 | 147 |
Vogtlandkreis | 5 | 231.051 | 37 | 1.412 | 164 |
Zwickau | 13 | 322.099 | 33 | 950 | 339 |
Bautzen | 9 | 304.691 | 58 | 2.396 | 127 |
Görlitz | 5 | 258.337 | 53 | 2.111 | 122 |
Meißen | 5 | 243.889 | 28 | 1.455 | 168 |
Sächsische Schweiz-Osterzgebirge | 10 (oder 5) | 246.066 | 36 | 1.654 | 149 |
Landkreis Leipzig | 7 | 258.333 | 30 | 1.651 | 156 |
Landkreis Nordsachsen | 6 | 198.063 | 30 | 2.029 | 98 |
So kann man in den vier der sechs Sozialräume des Landkreises Nordsachsen die vier alten Landkreise Torgau, Delitzsch, Eilenburg und Oschatz wiederfinden, in den fünf Sozialräumen des Landkreises Meißen finden sich die Konturen der Vorgängerlandkreise Meißen, Riesa und Großenhain, auch im Vogtlandkreis sind in den Sozialräumen die (bereinigten) Umrisse der vier Vorgängerlandkreise und der ehedem Kreisfreien Stadt Plauen zu erkennen. Auch für den Landkreis Görlitz wurde so vorgegangen. Es sind die alten »Verwaltungs-Kommunikationsräume«, die hier zur Konstitution der Sozialräume führten. Kein Landkreis definiert aber seine Sozialräume explizit und begründet die Abgrenzung – sei es mit physisch-geografischen, administrativen oder soziodemografischen Daten oder historischen Gründen.336
Das Beispiel Landkreis Nordsachsen zeigt aber deutlich, dass diese »alten, administrativ determinierten Kommunikationsräume« im Raumbezug nicht zwingend zusammengehen müssen mit der demografischen Entwicklung, die die regionalen sozialen Bedarfe und Problemlagen ja entscheidend determiniert. Dies zeigt ein Blick in die Demografiestudie Nordsachsen337, die das Institut für Länderkunde in Sachsen erarbeitet hat. Sichtbar werden die beiden (gelb und orange angelegten Wachstumsringe) im Norden von Leipzig, sowie die großen grün markierten, zu Leipzig peripher gelegenen Gebiete, die durch demografische Schrumpfung ausgezeichnet sind. Daher weisen die beiden inneren Ringe positive und die peripher gelegenen übrigen Städte und Gemeinden (außer Mittelzentren) negative Reproduktionsraten auf. Die Sozialräume korrespondieren in ihrem Zuschnitt nicht oder nur partiell mit diesen drei »Ringen«.
An diesem einen Beispiel wird deutlich, dass es für Fachplanungen und Monitorings sehr verschiedene Raumbezüge geben kann, die gegebenenfalls nicht linear verknüpfbar sind – obwohl für eine Sozialberichterstattung zum Beispiel Wohnungsleerstände oder geringe Neubautätigkeit durchaus relevante Informationen sind. Hohe Reproduktionsraten in Suburbanisierungsgebieten und niedrige Reproduktionsraten in der Peripherie eines Landkreises sind nicht minder wichtige Faktoren für eine qualifizierte und vor allem vorausschauende Sozialplanung und -berichterstattung. Bei einer Implementierung eines Sozialmonitorings wäre es sinnvoll, die bestehenden Sozialräume im aktuellen Zuschnitt einer kritischen Revision zu unterziehen. Dabei ist zu beachten, dass die zu identifizierenden Sozialräume durch eine datengestützte Typisierung abgegrenzt werden sollten.
Daher ist gerade für die im Zuge der Funktionalreform großzügig zugeschnittenen sächsischen Landkreise die Debatte um den Raumbezug ihrer Verwaltungs- und Sozialleistungen von herausragender Bedeutung auch im Blick auf Partizipationsmöglichkeiten und Bürgernähe.
Denn Räume können (auch) über die Beziehungen von Akteuren verstanden werden – es sind Menschen, die Räume über ihre sozialen und kulturellen Beziehungen definieren. Konkret heißt dies beispielsweise, dass die Orientierung an den Altkreisen für Empfänger von sozialen Leistungen – von der Hilfe zur Pflege bis zur Grundsicherung im Alter, von Pflegeleistungen bis zur Organisation von Freiwilligendiensten – durchaus sinnvoll sein kann, da die Altkreise einen über lange Zeit stabilen Orientierungsraum geboten haben und nachhaltig erinnert werden. Für die Beantragung eines Passes hingegen ist (bei einem geeigneten Internetangebot) der Standort der passausfertigenden Stelle irrelevant. Die kluge Rezeption und Nutzbarmachung des ‚spatial turn‘ im Kontext der Verwaltungs- und Sozialleistungsorganisation liegt noch vor uns – denn ein Landkreis kann oder sollte in Zeiten des demografischen Wandels neben seinen Funktionalitäten auch emotionale Verbundenheit ermöglichen.338
Fußnoten
333 Vergleiche Fußnote 273.
334 Netzwerkregionen, Planungsregionen, Sozialregionen meinen dasselbe und werden der Einfachheit halber als Sozialräume bezeichnet.
335 Für den Landkreis Sächsische Schweiz Osterzgebirge lässt sich eine verbindliche Zahl von Sozial- bzw. Planungsräumen nicht ermitteln.
336 Eine gute Handreichung für die Abgrenzung von Sozialräumen bietet FSA – Fachstelle für sozialraumorientierte Armutsbekämpfung. Der Sozialraum als Bezugsgröße Definition und Konstruktion, 2018.
337 Demografiestudie Landkreis Nordsachsen. Impulse des demografischen Wandels für den Landkreis Nordsachsen im Kontext neuer regionaler Wachstumstrends in der Region Leipzig Abschlussbericht 2017, abrufbar unter https://www.landkreis-nordsachsen.de/aktuell-a-6539.html.
338 Angelika Epple, Heimatbegriff: Horst Seehofer kriegt die Kurve, FAZ vom 04.10.2018 (Abruf am 25.10.2018), die eine bemerkenswerte Besprechung des Artikels von Horst Seehofer, warum Heimatverlust die Menschen so umtreibt (FAZ vom 29.04.2018, Abruf am 25.10.2018) bietet.