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Ein Rückblick – Vorläufer der Sozialberichterstattung in Sachsen

Die Demografie ist die Mutter aller sozialen Lagen und wirkt sich ökonomisch sehr unmittelbar aus. Es wundert daher nicht, dass die Sächsische Aufbaubank seit 2001 ein seitdem nahezu jährlich aktualisiertes Wohnungsbaumonitoring veröffentlicht 270, das für damals 25 und heute 58 Wohnungsmarktregionen demografische, soziale und wohnungsmarktrelevante Indikatoren verknüpft und im Raumbezug abbildet, denn Zu- und Abwanderung mit ihren wirtschaftlichen und sozialen Folgen zeichnen sich im Wohnungsleerstand bzw. im Neubauaufkommen sehr klar ab.

Wenig später, im Jahr 2006, legte das Sächsische Staatsministerium für Soziales dann einen ersten Sozialbericht vor, der sich an Lebenslagen orientiert und Themenfelder wie Demografie, Erwerbstätigkeit und Arbeitsmarkt, Einkommen, Vermögen und Überschuldung, Bildung, Wohnen und Stadtentwicklung sowie die Lebenslagen spezifischer Personengruppen (Bezieherinnen und Bezieher unterster Einkommen, Familien, Junge Menschen, Seniorinnen und Senioren, Gesundheit und Krankheit, Menschen mit Behinderung, Migrantinnen und Migranten) behandelt.271 Viele Themen wurden damals nur im gesamtsächsischen Raumbezug gesehen, einige Aspekte aber regionalisiert auf der Basis der damals 22 Landkreise und sieben Kreisfreien Städte differenzierter betrachtet. Wichtig war den Autoren und Autorinnen seinerzeit auch, die förderpolitischen Maßnahmen der Staatsregierung ausführlich darzustellen und den Lebenslagen zuzuordnen. Mit der Vorlage des Berichtes 2006 ist der Freistaat einer der Pioniere der Sozialberichterstattung auf Landesebene in den neuen Bundesländern gewesen, im selben Jahr erschien in Sachsen-Anhalt ein Sozialbericht, 2008 folgte dann auch der Freistaat Thüringen mit einem eigenen Bericht.272

Nahezu zeitgleich hat der sächsische Landtag ab 2005 als erstes Landesparlament der neuen Bundesländer eine Enquete-Kommission eingerichtet, die sich unter dem Vorsitz von Heinz Eggert der demografischen Entwicklung Sachsens und den daraus resultierenden Aufgaben und Problemlagen intensiv gewidmet hat. Der Bericht erschien 2008 unter dem Titel »Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder«.273 In neun inhaltlichen Feldern bearbeitete die Enquete-Kommission die Auswirkungen des demografischen Wandels, darunter auch die Themen Familie, Familiengründung und Gesellschaft sowie Gesundheit und ihre gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen. Ausführlich erläutert werden zum Beispiel der Gesundheitsstatus der Bevölkerung (Kinder, Senioren), der Lebenszuschnitt von älteren Menschen, die noch nicht pflegebedürftig sind, aber auch die damals aktuelle und künftig zu erwartende pflegerische und palliative Versorgung sowie der gesundheitliche Präventionsbedarf aller Altersgruppen. Betrachtet werden auch Familien und Alleinerziehende in ihren sozialen und wirtschaftlichen Lebenszuschnitten und deren Wandel. So werden beispielsweise – wie zehn Jahre später im hier vorliegenden Bericht – die prekäre Lage Alleinerziehender und ihre Armutsgefährdung ausführlich erläutert. Anders als der erste Sozialbericht des SMS bietet der Bericht der Enquete-Kommission zu jedem Kapitel Handlungsempfehlungen, die von ihrer Aktualität vielfach nichts verloren haben. Exemplarisch zitiert sei daher eine der Empfehlungen: »Viele der Bedingungen für das Zusammenleben in Familien sind von den konkreten Lebensumständen in Gemeinden und Regionen abhängig. Territoriale Bestandsaufnahmen sind unumgänglich für die Verbesserung der Situation der Familien. Dem Land Sachsen wird daher empfohlen, die kleinräumige Familienberichterstattung zu verbessern, das Zusammenwirken der Akteure in den Regionen (Unternehmen, Kommunen, Kirchen, Runde Tische) zu fördern und familienpolitische Modellregionen einzurichten«.274

Ebenfalls 2005 setzte der damalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt eine Expertenkommission zum demografischen Wandel ein. Unter der Leitung von Marcel Thum wurden bis 2006 ebenfalls konkrete Handlungsempfehlungen für die Staatsregierung erarbeitet.275 Die Kommission versuchte aufzuzeigen, wie mit der Schrumpfung und Alterung der sächsischen Gesellschaft umzugehen ist und die landespolitischen Handlungsspielräume und Steuerungsmöglichkeiten zum Beispiel in Familienpolitik, Zuwanderungspolitik und Arbeitsmarktpolitik zu markieren sind. Dass die Städte Dresden und vor allem Leipzig eindrucksvolle Bevölkerungszugewinne werden realisieren können (und nicht nur die Bevölkerung werden halten können), war seinerzeit nicht abzusehen, die Vertiefung regionaler Disparitäten und das Nebeneinander von Wachstum, Stagnation und Schrumpfung hat die Kommission für verschiedene Lebenslagen aber bereits damals sehr präzise beschrieben.

In ihren Handlungsempfehlungen verweist die Enquetekommission (Seite 253) auf die räumliche Kleinteiligkeit bzw. Heterogenität der Schrumpfungsprozesse hin und sieht darin den Bedarf für ein kleinteiliges Monitoring für Daten begründet, da diese relevant für eine belastbare Daseinsvorsorge sind. Und weiter:»Die Kleinteiligkeit bestimmt damit auch den Bedarf an Abstimmung zwischen den staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren: Die Organisation von Anpassungsprozessen wird insbesondere die Aufgabe kommunaler Akteure sein. Um die Aufgaben der Daseinsvorsorge auch in Zukunft bewältigen zu können, werden die Akteure in den Kommunen verstärkt Wege der interkommunalen Koordination und Kooperation gehen müssen«.276

Damit sind die Jahre seit der Jahrtausendwende bis 2008 Jahre intensiven Nachdenkens über den – vor Ort unmittelbar erlebten – demografischen Wandel und den daraus resultierenden sozialen, strukturellen und ökonomischen Auswirkungen auf das Leben im Freistaat Sachsen.

Im Rückblick sind dies »politisch-strategische Jahre« in den die inhaltlichen und konzeptionellen Grundlagen für den Umgang mit dem demografischen Wandel gelegt worden sind. Auf die Berichte von Enquète- und Expertenkommission, die die demografische Sensitivität und den darüber geführten Diskurs im Freistaat maßgeblich beeinflusst haben, folgen »operative Jahre«, in denen auf dem Hintergrund der konkreten Handlungsempfehlungen zahlreiche sozialpolitische und kommunikative Strategien und Förderungen entwickelt und umgesetzt worden sind.277

Exemplarisch genannt sei die Förderrichtlinie Demografie. Als erstes Bundesland unterstützt Sachsen deshalb bereits seit 2007 finanziell mit einem eigenen Landesprogramm Maßnahmen zur Bewältigung der Folgen des demografischen Wandels. Mit der regionalen Ausrichtung der Landesförderung soll erreicht werden, dass Kommunen, Entscheidungsträger und Bürger selbst aktiv werden und die Potenziale und Chancen in ihrer Region unter den Bedingungen von Bevölkerungsrückgang sowie Alterung erkennen und bearbeiten. Die Projekte, die durch die Staatskanzlei gefördert wurden, haben ausweislich der Projektbeschreibungen vielfach direkte Schnittstellen zur Sozialberichterstattung278, so zum Beispiel das seniorenbezogene Gesamtkonzept des Landkreises Nordsachsen.

2010 legte die sächsische Staatskanzlei unter dem Titel »Den demografischen Wandel gestalten. Anregungen für die Praxis« ein umfangreiches Kompendium vor, in dem auch die sozialen Folgen dieses Wandels skizziert und mit Handlungsideen unterlegt sind. Leitbilder, ganzheitliche, alle kommunalen Handlungsfelder umfassende Entwicklungs-, Handlungs- und Führungskonzepte und eine »tragende Stadtidee« stehen hier im Fokus.279

Sie benennt sieben strategische Ziele so zum Beispiel die »Chancen des aktiven Alterns nutzen«, verbesserte Bedingungen für Beschäftigung und Einkommen, regionale Daseinsvorsorge sichern bzw. das generationenübergreifende Miteinander einer starken Bürgerschaft verstetigen. Die Staatskanzlei knüpft inhaltlich damit an beiden oben genannten Kommissionsberichte an.

Die Bearbeitung der strategischen Ziele versieht sie mit konkreten Rahmenbedingungen, die zu klären sind. Es sind dies:

  • Welche Chancen im Prozess des demografischen Wandels stecken.
  • Welche Probleme durch eine rückläufige und sich ausdünnende Bevölkerung entstehen und welche Lösungsansätze ressortübergreifend entwickelt werden müssen. Dabei ist zu unterscheiden, ob systemkonforme Veränderungen ausreichen oder ob gänzlich neue Organisationsformen (Systemsprünge) zu entwickeln sind, da Umstrukturierungen oder Anpassungen im bestehenden System keine adäquaten Lösungen mehr erlauben.
  • Welche Auswirkungen das Nebeneinander wachsender, schrumpfender und stagnierender Gemeinden hat; diese sind durch eine regional, zeitlich und inhaltlich differenzierte Analyse der Auswirkungen zu klären.
  • Genauer zu betrachten sind auch die Familiengründung, die Erziehung von Kindern, die bessere Nutzung der Potenziale in den einzelnen Lebensphasen, ein gedeihliches Verhältnis der Generationen und eine kluge Regionalpolitik, die über Konzentration und Migration ein erfülltes kommunales Gemeinschaftsleben ermöglicht und wichtige Einrichtungen am Leben erhält. Städte und Gemeinden sind der ideale Raum für die Durchsetzung und Anwendung einer bevölkerungsbezogenen Politik und einer klugen Daseinsvorsorge. Bürgernähe und Einblick in Lebensstile und Lebensnöte der Bürger in Bezug auf Zeit, Geld und Wohnraum, auf Ausbildung und Arbeitsplatz garantieren am ehesten bedürfnisgerechte Einrichtungen und Maßnahmen.

Im Jahr 2011 folgte die Einrichtung eines Demografiemonitors, den das Statistische Landesamt und die Staatskanzlei des Freistaates Sachsen 2011 entwickelt haben. Alle bevölkerungsrelevanten Daten stehen, gegliedert nach Themenbereichen, auf Gemeindeebene für das Zeitfenster 1990 bis 2015 zur Verfügung und bieten damit eine vorzügliche Grundlage für die kleinräumige Beschreibung des demografischen Wandels, die allen Bürgerinnen und Bürgern, Ortsvorstehern, Bürgermeistern und Bürgermeisterinnen zugänglich ist. Die Daten sind altersgestaffelt und geschlechtsdifferenziert und öffnen einen sehr differenzierten Blick auf die demografische Genese, das demografische Ist und die demografische Zukunft des Freistaates Sachsen.280

Nicht nur der Freistaat, sondern auch Forschungsinstitute wie das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden widmeten sich dem demografischen Wandel und seinen Folgen. Exemplarisch genannt sei das 2008 installierte Rechenprogramm »Kommunale Wohnungsnachfrageprognose«, das es ermöglicht, individuelle Bevölkerungs-, Haushalts- und Wohnungsnachfrageprognosen für Kommunen zu erstellen 281, interdisziplinär konzipiert ist das Centrum für Demografie und Diversität der TU Dresden, einer Nachfolgeeinrichtung des 2005 gegründeten »Zentrum Demografischer Wandel (ZDW)«.282 Dem Raumbezug besonders verpflichtet ist das Institut für Länderkunde, Leipzig, das sich über verschiedene Studien mit Ursachen und Folgen soziodemografischer Prozesse auch in Sachsen befasst hat.283 Auch die Fachhochschule in Mittweida ist in diesem Themenfeld engagiert; an der Fakultät für Soziale Arbeit entstand unter Leitung der Ordinaria Isolde Heintze der erste Sozialbericht für den Landkreis Mittelsachsen.284

Auch in den sächsischen Landkreisen und Kreisfreien Städten ist der demografische Wandel und seine sozialen und ökonomischen Implikationen »angekommen«; Landkreise und Kreisfreie Städte nahmen und nehmen die Forderung der Enquetekommission nach einem kleinräumigen Monitoring in allerdings deutlich unterschiedlicher Intensität auf. 2008 legte die Landeshauptstadt Dresden einen ersten, sehr bemerkenswerten Sozialbericht vor; dieser und die anderen Sozialberichte bzw. Sozialmonitorings seien im Folgenden im Blick auf Inhalt, verwendete Datenbestände sowie Raumbezug vorgestellt.

 

Fußnoten

270 https://www.sab.sachsen.de/publikationen/wohnungsbaumonitoring/wohnungsbaumonitoring-2016-2017.pdf (Abruf am 10.10.2018).

271 Sozialbericht 2006. Lebenslagen in Sachsen, Auftraggeber: Sächsisches Staatsministerium für Soziales. Entwurfsverfasser Dr. Reiner Braun und Heiko Metzger, empirica Forschung und Beratung. Endbearbeitung: Sächsisches Staatsministerium für Soziales. Abrufbar unter: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Einkommen-Armut/Dokumente/2006_Sachsen_Lebenslagenbericht%202006.pdf (Abruf am 10.10.2018).

272 Eine gute Übersicht über die Sozialberichte der Länder bietet: http://www.sozialberichte.nrw.de/sozialberichterstattung_nrw/sozialberichte_seit_1992/index.php (Abruf am 10.10.2018).

273 Abschlussbericht der Enquete-Kommission vom 30. September 2008 – Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder. Abruf unter: https://www.landtag.sachsen.de/dokumente/20080930-Bericht-Enquetekommission.pdf (Abruf am 10.10.2018).

274 Ebenda, Seite 160.

275 Expertenkommission demografischer Wandel Sachsen, Empfehlungen zur Bewältigung des demografischen Wandels im Freistaat Sachsen, 2006.

276 Ebenda (Vergleiche Fußnote 273), Seite 253.

277 Eine Zusammenschau aller Maßnahmen der Staatregierung bietet http://www.demografie.sachsen.de (Abruf am 10.10.2018).

278 Vergleiche dazu: http://www.demografie.sachsen.de/foerderrichtlinie-und-projekte-4786.html; dort sind auch die geförderten Einzelprojekte in Kurzbeschreibungen zu finden. Leider sind die Ergebnisse häufig nicht allgemein zugänglich publiziert.

279 https://publikationen.sachsen.de/bdb/artikel/11914 (Handlungskonzept: http://www.demografie.sachsen.de/Handlungskonzept_Demografie.pdf) (Abruf am 10.10.2018).

280 Einschlägiges Datenmaterial auf Kreisebene, das eine Vielzahl von Lebenslagen abbildet, bietet auch das Statistische Jahrbuch Sachsen sowie die zahlreichen Einzelberichte des Statistischen Landesamtes.

281 https://www2.ioer.de/wpg/kontakt.php (Abruf am 10.10.2018).

282 https://tu-dresden.de/cdd (Abruf am 10.10.2018).

283 Zum Beispiel langfristige Sicherung von Versorgung und Mobilität in ländlichen Räumen; Modellvorhaben im Landkreis Leipzig, https://www.ifl-leipzig.de/de/forschung/projekt/detail/langfristige_sicherung_von_versorgung_und_mobilitaet_in_laendlichen_-raeumen.html (Abruf am 10.10.2018) oder auch das DFG-Projekt »Diskurs und Praktiken in schrumpfenden Regionen. Eine Untersuchung zur subjektiven Relevanz von Schrumpfungsdiskursen am Beispiel des Altenburger Landes«,vergleiche: https://www.ifl-leipzig.de/index.php?id-=291&no_cache=1&L=1%27A%3D0&tx_ttnews%5BbackPid%5D=&tx_ttnews%5BpS%5D=&tx_ttnews%5Bswords%5D=&tx_ttnews%5Btt_news%5D=93&cHash=f01eff2885cc93cf58faae759280a2b2 (Abruf am 10.10.2018).

284 Vergleiche Fußnote 305.

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